Gute Geschichten machen neugierig.

Gute Geschichten machen neugierig. Sie sind so spannend, dass wir gerne zuhören und bis zum Schluss aufmerksam bleiben. Und dann geht einem plötzlich auf: Das ist ja meine Geschichte! Hier bin ja ich gemeint!

Für mich ist die Geschichte vom Adler so eine gute Geschichte:

 

Ein Mann fand ein Adler-Ei und legte es in das Nest einer gewöhnlichen Henne. Der kleine Adler schlüpfte mit den Hühner-Küken aus und wuchs zusammen mit ihnen auf. Sein ganzes Leben lang benahm sich der Adler wie die Hühner, weil er dachte, er sei ein Huhn aus dem Hinterhof. Er kratzte in der Erde nach Würmern und Insekten. Er gluckte und gackerte. Und ab und zu hob er seine Flügel und flatterte ein Stück, genau wie die Hühner.

Die Jahre vergingen, und der Adler wurde sehr alt. Eines Tages sah er einen herrlichen Vogel hoch über sich im wolkenlosen Himmel. Elegant schwebte er, fast ohne mit seinen kräftigen Flügeln zu schlagen. Der alte Adler blickte ehrfürchtig empor. „Wer ist das?“, fragte er seinen Sitznachbarn, einen alten Hahn. „Das ist ein Adler, der König der Vögel“, sagte der Nachbar. „Aber reg dich nicht auf. Du und ich sind von anderer Art.“

Also dachte der Adler nicht weiter an diesen Vogel. Er starb in dem Glauben, ein Huhn im Hinterhof zu sein.

Wer dieser Geschichte bis zum Schluss aufmerksam gefolgt ist, kann eigentlich gar nicht mehr anders als zu fragen: Lebe ich so, wie es meinen Anlagen, meinen Möglichkeiten entspricht? Oder gebe ich mich mit einem Hühner-Dasein zufrieden, obwohl ich ein Adler bin? Habe ich mir meinen kleinen Hinterhof bequem eingerichtet und dabei den weiten Horizont meines Lebens aus dem Blick verloren? Ist in mir noch die Sehnsucht wach, der zu werden, der ich sein könnte? Dürste ich nach mehr - nach besserem, intensiverem Leben?

Damit sind wir genau bei den Fragen, um die Johannes in seinem Evangelium ständig kreist, und die auch den Hintergrund bilden für die Geschichte von Jesus und der Frau am Jakobsbrunnen:

Der Evangelist Johannes schreibt sein Evangelium erst ungefähr im Jahr 120 n.Chr. Und er hat ein literarisches Talent:

> Alle Geschichten, die der Evangelist Johannes erzählt, sind nicht nur Erinnerungen an einzelne Szenen aus dem Leben Jesu, sondern immer auch  Symbolgeschichten.

> Alle Personen, die im Johannesevangelium Jesus begegnen, sind auch Beispielfiguren dafür, wie mein Leben zu mehr Fülle kommen könnte.

> Alle Gespräche, die Jesus führt, öffnen dem Gesprächspartner die Augen für sein „Hinterhof-Dasein“; und zeigen ihm schließlich, dass in Jesus selbst der Schlüssel zu diesem Leben in Fülle liegt.

In der Geschichte von Jesus und der Frau am Jakobsbrunnen können wir den Weg mitgehen, auf dem Johannes seine Leser und Hörer zu mehr Leben führen will.

Zunächst einmal geht der Evangelist davon aus, dass wir uns mit dem „Hinterhof“ abgefunden haben; dass wir uns zum Stillen unseres Lebensdurstes mit abgestandenem Brunnenwasser zufriedengeben. Johannes zeichnet in der Samariterin das Bild des Menschen, dem die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse genügt. Wir könnten für die heutige Zeit weiter ausmalen: das Bild des ② Menschen, dem Gesundheit, ein bisschen Freizeitspaß und Wohlstand zum Leben reichen; ein Mensch, der sich gegen Stress und Termindruck nicht mehr wehrt; der sich mit den Halbwahrheiten und Kompromissen seines Lebens arrangiert hat; der sich anpasst; dem die großen Träume und Hoffnungen verloren gegangen sind.

Dann führt uns Johannes einen Schritt weiter, Er will uns zeigen, dass dieses alltägliche, konturlose Leben durch die Begegnung mit Jesus im guten Sinn „frag-würdig“ werden kann. Mühsam und durch viele Missverständnisse hindurch bringt Jesus die Samariterin – und dann vielleicht auch mich zum Fragen:

- Genügt dir das, was im Moment dein Leben ausmacht? - Brauchst du alles, was du festhältst? Erweisen sich (mit den Augen des Glaubens betrachtet) nicht manche deiner Einstellungen und Urteile als oberflächlich und vordergründig?

Die Begegnung mit der Bibel soll auch in mir das „Darüber-Hinaus-Dürsten“ auslösen, sie soll zu dem Moment werden, in dem ich sage: „Ich habe es satt, nur satt zu sein. Ich will mehr. Mein Lebensdurst ist noch nicht gelöscht.“

Noch einmal mit den Worten der Adlergeschichte: Jesus will auch mich provozieren, den Irrtum meines Hühner-Daseins zu entdecken und meine Adlerqualitäten ernst zu nehmen; das heißt, meine wirkliche Berufung zu erkennen.

Ich kenne die Adlergeschichte noch in einer anderen Version:

Eines Tages kam ein Tierforscher. Er staunte nicht wenig, als er den Adler auf dem Hühnerhof sah.  „Das ist kein Adler mehr“, sagte ihm der Bauer, „der ist zum Huhn geworden.“

„Ein Adler bleibt immer ein Adler“, antwortete der Forscher. Er hob den Adler vom Boden und schwang ihn mit einem kräftigen Wurf in die Luft. Aber der Adler setzte sich sofort wieder auf den Boden und pickte weiter. Der Forscher trug ihn auf das Dach des Hühnerstalls und ließ ihn fliegen.

Der Adler schlug jetzt zwar einige Male mit den Flügeln, aber er flatterte er schnell wieder zum Federvieh, das auf dem Hof scharrte pickte.

Doch der Tierkenner gab nicht auf. Er stieg mit dem Adler auf einen Berg. Dort ließ er ihn geradewegs in die Sonne blicken. Und plötzlich stieß der Adler einen Schrei aus, sein ganzer Körper zitterte, und mit den mächtigen Schlägen seiner Schwingen hob er sich in die Lüfte — höher und höher — und kehrte nie wieder zurück.

Wie der Adler den Tierkenner, so brauche ich vielleicht auch manchmal jemanden, der keine Ruhe gibt, bis er mich aus meinem Hinterhof herausgeholt hat; der Geduld mit mir hat, bis ich selbst den Mut aufbringe, das größere Bild von mir zu verwirklichen.

In jedem Gottesdienst, in jedem stillen Gebet, in jeder guten Begegnung, in jedem Abschnitt beim Bibel-Lesen kann ich gelegentlich die Stimme Jesu hören: Lass dir deinen Lebensdurst nicht nehmen! Meine Frohe Botschaft ist eine sprudelnde Quelle, die dir gut tun wird.

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